Kurzgeschichte: Die Stimme

veröffentlicht: 24.7.2017

geschrieben: Dezember 2015

Das Glas knallte auf den Fliesenboden und das Sugo mit Vorarlberger Frischkäse spritzte bis hoch an die Fleischtheke. Die Verkäuferin dahinter machte ihrem Unmut Luft, zumindest ließen ihre Mimik und Gestik darauf schließen. Ich hörte lediglich ein lautes Rauschen, während ich unkontrolliert zuckte.

Mein Körper hatte über die Jahre immer wieder mal lustige Anwandlungen, diese war neu. Der Billa war ein denkbar schlechter Ort dafür.

Als meine Imitation von Der Exorzist nach einer halben Minute aufhörte und ich nach einer weiteren wieder Herrin meiner Sinne war, suchte ich so schnell wie möglich das Weite. In Zukunft würde ich also nur noch zum Hofer gehen, zumindest bis ich mir sicher sein konnte, nicht mehr zweifelsfrei von der Billa-Verkäuferin identifiziert zu werden.

Ich diagnostizierte mit Hilfe von Wikipedia Myoklonie, "rasche unwillkürliche Muskelzuckungen, die häufig als Begleitsymptom bei einer Vielzahl neurologischer Erkrankungen vorkommen." Sicher nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste.

Der zweite Zwischenfall ereignete sich ein paar Wochen später in der Berufsschule. Eigentlich wenig verwunderlich, da ich oft genug kurz davor war auszuzucken, aber dennoch überraschend. Mitten in der Lichttechnik Stunde verkrampften und zuckten meine Muskeln, was für Erheiterung meiner Klassenkollegen sorgte. Lediglich der fesche Lehrer und die Nihilistin eilten zu mir und tätschelten mit besorgter Miene meinen Kopf. Als ob das jemals irgendetwas geholfen hätte. Das Rauschen war diesmal noch lauter und ich hörte einzelne Stimmen heraus: die meiner Mutter, die meines Chefs, die der Billa-Verkäuferin. Sie alle verurteilten mich, so viel war klar. Auch wenn ich das nur am Tonfall festmachte, konkrete Worte wurden vom Lärm verschluckt. Als der Anfall endlich überstanden war, hielt zeitgleich draußen der Krankenwagen mit Blaulicht. Als würden die Handyaufnahmen der Vollidioten nicht schon genug Publikum erreichen, wurden sie jetzt noch mit zusätzlicher Action versehen. Wie Hirnlose standen sie da und richteten ihre Smartphones auf das Auto, als würden sie zum ersten Mal einen Krankenwagen sehen. Betont locker und fröhlich hüpfte ich für die Untersuchung hinein, vielleicht um mir selbst Normalität vorzugaukeln. Zumindest würde ich den Rest des Tages frei haben.

Obwohl es sich um eine durchaus ernste Angelegenheit handelte, wusste ich diesmal instinktiv, dass ich kerngesund war. Nicht mit mir stimmte etwas nicht, sondern mit der Welt. Sie war diejenige die zuckte, ich war diejenige, die still war.

Die Ärzte fanden, wie erwartet, keinen medizinischen Grund und schoben es dem Stress in die Schuhe. Wie viele Menschen wohl schon an Stress gestorben sind - angeblich? Meinen Eltern erzählte ich erstmal nichts von der Sache, sie machten sich schon genug Gedanken wegen mir, kein Grund Gesundheit ihrer Sorgenliste hinzuzufügen.

Beim dritten Vorfall zuckte ich so stark, dass mein Körper in Stücke riss. Ich schaute gerade mit Freunden Star Wars, dem Stress so fern wie man nur sein kann, wenn man schon weiß wie die Schlacht ausgeht. Plötzlich gab es einen Knall und alles um mich war schwarz. Stille verstärkte das Gefühl von Unendlichkeit. Ich wollte rufen, aber ich besaß keinen Mund. Ich besaß keinen Körper, keine Ohren und dennoch hörte ich plötzlich eine leise Stimme entfernt eine Melodie summen. Es war unmöglich eine Richtung auszumachen aus der sie klang, aber langsam wurde sie lauter als käme sie näher. Aus dem Summen wurde Gesang in einer fremden Sprache. Es war die schönste Frauenstimme, die ich je gehört habe. In den Tönen schwang die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen. Nach und nach formten sich einzelne Lichtpunkte, die von der Stimme dirigiert wurden. Sie tänzelten wie Schneeflocken, verbanden sich miteinander zu Formen und Farben. Langsam entstanden komplexe Gebilde, schroffe Steine, die zu Felsen wurden, ebenso wie fließendes Wasser, das sanfte Wellen bildete. Ohne dass ich es bemerkt hatte, war alles Schwarz verschwunden und Sonnenstrahlen wärmten mein Gesicht. Ich musste nicht an mir runtersehen, um zu wissen, dass ich mich wieder in einem Körper befand. Unter meinen Füßen spürte ich die kalten Steine, ich schmeckte das Salz des Meeres in der Luft und roch die Algen, die dem Wasser eine grünliche Färbung verliehen. Das Rauschen der Wellen untermalte die Stimme, die jetzt eindeutig aus mir sang. Nicht länger eingezwängt, diente ihr mein Körper von nun an als Gefäß, um Welten zu erschaffen.