Gedicht: Lang lebe!

veröffentlicht: 10.5.21

Die Tiere sperren die Kunst in kleine Käfige.

Jede Kunstform in ihre eigene Metallbox.

Die Kunst bleibt lieber unter sich.

Sie brechen ihr das Rückgrat und zwingen sie so in quadratische Form.

Massenweise stapeln sie die Käfige über- und nebeneinander in der stickigen Halle.

Sie rasieren ihr das Fell und kürzen ihr die Krallen, damit sie sich nicht verletzt.

Die Kunst muss vor sich selbst beschützt werden.

Die Tiere pumpen die Kunst mit Antibiotika voll, um sie resistenter zu machen.

In freier Wildbahn wäre sie längst verreckt, sagen sie.

Die Kunst ist empfindlich.

Später könne man einige widerstandsfähige Exemplare auswildern, die man extra dafür züchtet. Man müsse sie langsam ranführen.

Die Kunst ist Freiheit nicht gewohnt.

Bis dahin …

 

Die Kunst sitzt in ihrer eigenen Scheiße.

Über Schläuche wird sie regelmäßig mit Essen versorgt.

Die Kunst soll wachsen und gedeihen.

Die Tiere besamen die Kunst, indem sie ihr Münzen tief in den Arsch stecken.

Wenn sie Junge wirft, muss man sie sofort von der Kunst trennen.

Die Kunst frisst ihre eigenen Kinder.

Die Tiere stechen Nadeln in ihr Fleisch, testen ihr Blut, prüfen die Reflexe.

Sie experimentieren mit ihr, setzen sie in Labyrinthe und beobachten ihr Verhalten.

Draußen brüllen Aktivistinnen und Aktivisten. Sie fordern die Freilassung der Kunst und sprühen „Die Würde der Kunst ist unantastbar!“ an die Wände.

Die Kunst selbst leistet keinen Widerstand.

Sie kniet sich schweigend nieder, senkt demütig ihr Haupt in der Hoffnung auf Erbarmen.

Sie interessiert sich nicht für Künstlerinnen und Künstler, die in ihrem Namen sprechen. Für sie existiert keine Welt außerhalb.

Die Kunst dreht sich immer nur um sich selbst.

Die Kunst hat die Zeit auf ihrer Seite. Selbst als sie elendig krepiert.

 

Die Tiere zerhacken den Kunstkadaver und verkaufen ihn luftdicht verpackt und frei von Konservierungsstoffen an Tier-Konsumenten.

Die Kunst gibt es montags im Sonderangebot.

Die Tiere fressen die Kunst zum Frühstück.

Sie reißen sie mit ihren Zähnen in Stücke und nagen die Knochen blank.

Die Kunst liegt schwer im Magen. Sie verstopft den Darm und verursacht Blähungen.

 

In der Nacht explodieren die Tiere vor Kreativität.

Die Kunst ist tot! Lang lebe die Kunst!